Archiviertes - Philosophiestunde

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JANUAR 2024
OKTOBER 23

 
Manchmal legt Kant es geradezu darauf an, die natürlichen Quellen der Sittlichkeit zu verstopfen. So zum Beispiel will er das unmittelbare Mitleid nicht als ethisch angese­hen haben. Das innerliche Miterleben des Leidens eines anderen soll nicht als Pflicht im wirklichen Sinne des Wortes gelten dürfen (...). Alles Helfen muß aus der prinzipiellen Überlegung über die Pflicht, zu anderer Menschen Glückseligkeit beizutragen, her­vorgehen. (...)
 
Kant betont ausdrücklich, daß die Ethik es nur mit Pflichten der Menschen gegen Men­schen zu tun habe. (...) So gilt es dem europäischen Denken als ein Dogma, daß die Ethik es eigentlich nur mit dem Verhalten des Menschen zum Menschen und zur Gesellschaft zu tun habe. (...)
 
Wahre Philosophie muß von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache des Bewußtseins ausgehen. Diese lautet: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Dies ist nicht ein ausgeklügelter Satz. Tag für Tag, Stunde für Stunde wandle ich in ihm. In jedem Augenblick der Besinnung steht er neu vor mir. (...)
 
Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die glei­che Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Le­ben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen. Tatsächlich läßt sich alles, was in der gewöhnlichen ethischen Bewertung des Verhaltens zueinander als gut gilt, zurückführen auf materielle und geistige Erhaltung oder Förderung von Menschenleben und auf das Bestreben, es auf seinen höchsten Wert zu bringen. (...)
 
Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, daß er kein Insekt zertritt. (...)
 
Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.
Schweitzer, A., Ehrfurcht vor dem Leben. Zu einer Ethik der grenzenlosen Verantwor­tung für das Leben. In: Reader zum Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik 1, Frank­furt a. M., Fischer, 1980, S. 224-227. Zum Zweck der Prüfung gekürzt und bearbeitet.
 
Wilhelm von Humboldt
Über den Geschlechtsunterschied
und dessen Einfluß auf die organische Natur (1795)
 
          […] Soll der Mensch zu dem Ideale gelangen, das die Vernunft ihm vorschreibt; so muß der Mann seine natürliche Thätigkeit an ein festes Gesetz binden, das Weib die Gesetzmäßigkeit, welche es seinem Wesen eingeprägt fühlt, durch innre Antriebe mit Thätigkeit beleben. Unterliegt aber das Bemühen der Vernunft hier dem Hang der Natur, so hebt der doppelte Fehler beider Geschlechter sich selbst wieder auf. Mit verschiedenen Eigenschaften versehen und doch unzertrennlich von einander, beschränken sie sich selbst bis auf die Gränze, welche dem Endzweck des Ganzen entspricht.
 
Die Natur, in ihrem ganzen Umfang betrachtet, ist unveränderlich. Die Thätigkeit ihrer Kräfte rastet nie, und ihre Gesetze verschaffen sich immer gleichen Gehorsam. So unterbricht nichts je weder den Grad, noch die Form ihrer Wirksamkeit. Diese Thätigkeit aber unveränderlich zu erhalten findet sie in der gegenseitigen Eigenthümlichkeit beider Geschlechter eine mächtige Stütze. Indeß sie aus dem einen Rastlosigkeit schöpft, verbürgt ihr das andre die Stätigkeit.
 
So sind nun zwischen beiden Geschlechtern die Anlagen vertheilt, welche es ihnen möglich machen, dieß unermeßliche Ganze zu bilden. Nur dadurch gelang es der Natur, widersprechende Eigenschaften zu verbinden, und das Endliche dem Unendlichen zu nähern. Denn überall droht angestrengte Thätigkeit dem ruhigen Daseyn, so wie erhaltende Ruhe der regen Energie den Untergang. Darum beseelte die Natur ihre Söhne mit Kraft, Feuer und Lebhaftigkeit, und hauchte ihren Töchtern Haltung, Wärme und Innigkeit ein. Indeß nun die einen ihr Gebiet zu erweitern streben, bereichern es die andern mit sorgsamer Hand innerhalb seiner Gränzen. Denn der ganze Charakter des männlichen Geschlechts ist auf Energie gerichtet; dahin zielt seine Kraft, seine zerstörende Heftigkeit, sein Streben nach Außenwirkung, seine Rastlosigkeit. Dagegen geht die
Stimmung des weiblichen, seine ausdauernde Stärke, seine Neigung zur Verbindung, sein Hang die Einwirkung zu erwiedern und seine holde Stätigkeit allein auf Erhaltung und Daseyn. Mit gemeinschaftlicher Sorgfalt verrichten sie daher die beiden großen Operationen der Natur, die, ewig wiederkehrend, doch so oft in veränderter Gestalt erscheinen, Erzeugung und Ausbildung des Erzeugten. Vergleicht man indeß ihre eigenthümliche Beschaffenheit noch näher mit einander; so hat die Natur die empfangenden Kräfte noch unter genauere Obhut genommen. Sie theilen mit ihr ihre entschiedensten Vorzüge, und, gleich den Töchtern im Hause, schließen sie sich näher an die sorgsame Mutter an.
 
Daseyn, von Energie beseelt, ist Leben, und das höchste Leben das letzte Ziel, in dem sich das Streben aller verschiedenen Kräfte der Natur vereint. Die Verschiedenheit beider Geschlechter befördert die Erreichung dieses Ziels, oder vielmehr ihre eigenthümliche Beschaffenheit führt sie zu demselben hin, ohne daß sie selbst sich dessen bewußt sind. Denn keine Kraft der Natur dient als Mittel einem Zweck, oder strebt einer fremden Absicht entgegen. Indem alle harmonisch wirksam sind, folgt jede nur ihrem eigenen Triebe, und das letzte Resultat der Thätigkeit aller geht mit einer Nothwendigkeit hervor, die, da sie alle Absicht ausschließt, auf den ersten Anblick zufällig scheinen kann. In gleicher Freiheit wirken nun auch die Kräfte der beiden Geschlechter, und so kann man dieselben als zwei wohlthätige Gestalten ansehen, aus deren Händen die Natur ihre letzte Vollendung empfängt. Dieser erhabenen Bestimmung genügen sie aber nur dann, wenn sich ihre Wirksamkeit gegenseitig umschlingt, und die Neigung, welche das eine dem anderen sehnsuchtsvoll nähert, ist die Liebe. So gehorcht daher die Natur derselben Gottheit, deren Sorgfalt schon der ahnende Weisheitssinn der Griechen die Anordnung des Chaos übertrug.
SEPTEMBER
Text aus: Abiturtraining, Ethik. Stark Verlag
 
 
Anregung: Was haben Macht und Verantwortung miteinander zu tun?
Miteinander leben?
Chancen und Probleme eines politischen und kulturellen Pluralismus


Utilitarismus,  Jeremy Bentham
Über das Prinzip der Nützlichkeit

1. Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid  und Freude – gestellt. Es ist an ihnen allein aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch  zu bestimmen, was wir tun werden.  Sowohl der Maßstab für richtig und falsch als auch die Kette von Ursachen und  Wirkungen sind an ihrem Thron festgemacht. Sie beherrschen uns in allem, was wir  sagen, was wir denken: Jegliche Anstrengung, die wir auf uns nehmen können, um  unser Joch von uns zu schütteln, wird lediglich dazu dienen, es zu beweisen und zu  bestätigen. [...]  Das Prinzip der Nützlichkeit erkennt dieses Joch an und übernimmt es für die  Grundlegung jenes Systems, dessen Ziel es ist, das Gebäude der Glückseligkeit durch  Vernunft und Recht zu errichten. […]

2. Das Prinzip der Nützlichkeit ist die Grundlage des vorliegenden Werkes. Es wird daher  zweckmäßig sein, mit einer ausdrücklichen und bestimmten Erklärung dessen zu  beginnen, was mit ihm gemeint ist.  Unter dem Prinzip der Nützlichkeit ist jenes Prinzip zu verstehen, das schlechthin jede  Handlung in dem Maß billigt oder missbilligt, wie ihr die Tendenz innezuwohnen  scheint, das Glück der Gruppe, deren Interesse infrage steht, zu vermehren oder zu  vermindern, oder – das Gleiche mit anderen Worten gesagt – dieses Glück zu befördern  oder zu verhindern. Ich sagte: Schlechthin jede Handlung, also nicht nur jede Handlung  einer Privatperson, sondern auch jede Maßnahme der Regierung.

3. Unter Nützlichkeit ist jene Eigenschaft an einem Objekt zu verstehen, durch die es dazu  neigt, Gewinn, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück hervorzubringen […], oder […] die  Gruppe, deren Interesse erwogen wird, vor Unheil, Leid, Bösem oder Unglück zu  bewahren; sofern es sich bei dieser Gruppe um die Gemeinschaft im Allgemeinen  handelt, geht es um das Glück der Gemeinschaft; sofern es sich um ein bestimmtes  Individuum handelt, geht es um das Glück dieses Individuums.

4. „Das Interesse der Gemeinschaft“ ist einer der allgemeinsten Ausdrücke, die in den  Redeweisen der Moral vorkommen können. Kein Wunder, dass sein Sinn oft verloren  geht. Wenn er einen Sinn hat, dann diesen: Die Gemeinschaft ist ein fiktiver Körper, der  sich aus den Einzelpersonen zusammensetzt [...]. Was also ist das Interesse der  Gemeinschaft? Die Summe der Interessen der verschiedenen Glieder, aus denen sie  sich zusammensetzt.

5. Es hat keinen Sinn, vom Interesse der Gemeinschaft zu sprechen, ohne zu wissen, was  das Interesse des Individuums ist. Man sagt von einer Sache, sie sei dem Interesse  förderlich oder zu Gunsten des Interesses eines Individuums, wenn sie dazu neigt, zur  Gesamtsumme seiner Freuden beizutragen: oder, was auf das Gleiche hinausläuft, die  Gesamtsumme seiner Leiden zu vermindern.

6. Man kann also von einer Handlung sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit  oder – der Kürze halber – der Nützlichkeit (d. h. in Bezug auf die Gemeinschaft  insgesamt), wenn die ihr innewohnende Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu  vermehren, größer ist als irgendwie andere ihr innewohnende Tendenzen, es zu  vermindern. […]

7. Man kann von jemandem sagen, er sei ein Anhänger des Prinzips der Nützlichkeit,  wenn die Billigung oder Missbilligung, die er mit einer Handlung oder Maßnahme  verbindet, durch die Tendenz bestimmt ist und der Tendenz entspricht, die ihr nach  seiner Ansicht innewohnt, um das Glück der Gemeinschaft zu vermehren oder zu  vermindern. Oder mit anderen Worten, wenn seine Billigung oder Missbilligung von  der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Handlung mit den Gesetzen  oder Geboten der Nützlichkeit abhängt.

Aus: Bentham, Jeremy: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung. In:  Otfried Höffe (Hrsg.): Einführung in die utilitaristische Ethik. A. Francke Verlag, Tübingen/Basel,  3. Auflage 2003, S. 55–58.  Mit freundlicher Genehmigung des Dr. Josef Raabe-Verlags.  Aus: König, Alexander; Jochum, Peter; Jungblut, Dorothee (2006): Was soll ich t    
 
Denkanregung:
Hedonistisches Kalkül? - Widerspruch Utilitarismus und Gerechtigkeit? - Weiterentwicklungen möglich?
Anregung: Rechtsphilosophischer Standpunkt? - Vernünftige Einwände gegen das Urteil?
JULI
  



MAI 23
ZUM BEGRIFF DER SATIRE
 Nach Jürgen Brummack hat die Satire drei konstitutive Elemente, deren keines fehlen darf,  wenn der Begriff zutreffen soll. Seine dreigliedrige Arbeitsdefinition lautet: Satire ist „ästhetisch sozialisierte Aggression“. Aggression ist hier zu verstehen als Angriffs h a n d l u n g ;  ihr liegt ein individuell-psychologisches Movens zugrunde: der Satiriker attackiert ein Objekt,  das in ihm eine Irritation, Hass, Wut, Aggressionslust provoziert hat. Das Attribut „sozialisiert“ besagt, dass der Angriff einem gesellschaftlich nützlichen Zweck dienen soll, er soll  abschrecken oder bessern und ist an irgendwelche Wertvorstellungen gebunden. Die sozialisierte Aggression ist also p o l i t i s c h intendiert, wenn wir den (von Brummack nicht verwendeten) Begriff weit und ursprünglich genug fassen; der Satiriker sucht die Öffentlichkeit,  letztlich um der Gesellschaft weiterzuhelfen. Was heißt nun „ästhetisch“ sozialisierte Aggression? Das zugrundeliegende griechische Verb bedeutet 'wahrnehmen'; ein ästhetischer Vorgang  ist also zunächst einmal ein Kommunikationsprozess, in dem Zeichen dazu dienen, Informationen von einem Sender an einen Empfänger zu vermitteln. Zeichenhaftigkeit meint darüber  hinaus in Brummacks Definition eine Abgrenzung gegen den physischen Angriff, und diese  Abgrenzung ist notwendig, wenn man bedenkt, dass das Ritual der Hinrichtung oder Opferung eines Menschen, der Schächtung eines Tieres usw. beide Elemente - den physischen  Angriff und die Zeichenhaftigkeit – verbindet. Die vielfältigen alten Lebensstrafen sind nicht  in erster Linie Ausdruck einer üppigen sadistischen Phantasie, sondern jede. Form - das  I-lenken, Kreuzigen, Enthaupten, Rädern, Ertränken, Verbrennen, lebendig Begraben, vom  Felsen Stürzen, Vierteilen, Steinigen - hat, als Ritual, zeichenhafte, auf das Verbrechen  und den Kosmos bezogene Bedeutung, und zwar für den Delinquenten wie für die Gesellschaft? Dagegen legt auch die schärfste Satire nicht Hand an den Angegriffenen, sie geschieht nur durch Zeichen. Schließlich bedeutet „ästhetisch“, dass Satire ein Zeichensystem  (Sprache, Bild, Mimus) in künstlerischer Weise nutzt. Als Kunst zielt sie - trotz  ihres letzten Endes ernsthaften Zwecks (daher die politische Konstituente!) ~ auf das ästhetische Vergnügen des Adressaten (des Lesers usw.), und sei diese Absicht noch so gut verborgen.
(Text aus: Satire in Text und Bild. Klett.)
[...] Das Wort Theorie geht auf religiöse Ursprünge zurück: Theoros hieß der Vertreter, den griechische Städte zu den öffentlichen Festspielen  entsandten. ln der Theoria, nämlich zuschauend, entäußert er sich ans  sakrale Geschehen. lm philosophischen Sprachgebrauch wird Theoria auf  den Anblick des Kosmos übertragen. Als Anschauung des Kosmos setzt  Theorie die Grenzziehung zwischen Sein und Zeit schon voraus, die, mit  dem Gedicht des Parmenides, Ontologie begründet und' in Platons Timaios  wiederkehrt: sie reserviert ein vom Unsteten und Ungewissen gereinigtes  Seiendes dem Logos und überläßt das Reich des Vergänglichen der Doxa.  Wenn nun der Philosoph die unsterbliche Ordnung anschaut, kann er nicht  umhin, sich selber dem Maß des Kosmos anzugleichen, ihn in sich nachzu-  bilden. Er bringt die Proportionen, die er in den Bewegungen der Natur wie in  der harmonischen Folge der Musik anschaut, in sich zur Darstellung; er bildet  sich durch Mimesis. Die Theorie geht auf dem Wege über die Angleichung  der Seele an die geordnete Bewegung des Kosmos in die Lebenspraxis ein -  Theorie prägt dem Leben ihre Form auf, sie reflektiert sich in der Haltung  dessen, der sich ihrer Zucht untenivirft, im Ethos. [...] - J. Habermas, Erkenntnis und interesse, S. 146 -        
APRIL 23

Das Experiment  
1. Die Begegnung von Subjekt und Objekt im Experiment

Das Experiment ist nach diesen wahren Worten Kants ein Drama zwischen  zwei Partnern, der „Vernunft“ und der „Natur“. Statt „Vernunft“ würden wir  Heutigen lieber einfach „Mensch“ sagen. Denn auf der einen Seite kennt  unsere Wissenschaft keine andere als die menschliche Vernunft, und eine  übermenschliche Vernunft hätte wohl das Experimentieren nicht nötig; auf  der anderen Seite reicht die bloße -Vernunft zum Experimentieren nicht aus,  sondern der Mensch muß dazu auch seine Hände und seine Augen gebrauchen. All dies wußte Kantauch, aber für uns liegt der Ton weniger einseitig  auf der rationalen Komponente.  Das Experiment wäre demnach eine Auseinandersetzung zwischen Mensch  und Natur. Aber nicht jede Auseinandersetzung zwischen diesen Partnern ist  ein Experiment. Schärfer werden die Rollen beider Partner in diesem besonderen Vorgang durch die grammatischen Begriffe Subjekt und Objekt bezeichnet. Ein Experiment liegt nur dort vor, wo Erkenntnis erstrebt wird.  „Erkennen" ist ein transitiver Zeitwert: jemand erkennt etwas; "Jemand“,  das Subjekt, ist irgendein Mensch; „etwas“, das Objekt, ist irgendein Ding,  Vorgang, Sachverhalt in der Natur. im folgenden werde ich die Begriffe  Subjekt und Objekt meist in bezug auf die durch das Experiment vermittelte  Erkenntnis gebrauchen. -  Was müssen die beiden..Paıtner nun können, was müssen sie tun oder  geschehen iassen, damit ein Experiment zustandekornınt? Soeben wurde  gesagt, daß der Mensch außer der Vernunft seine Hände und Augen dazu  braucht. Erst die Dreiheit Denken, Handeln und Wahrnehmen macht das

  Experiment möglich. Welche Bedingungen müssen beide Partner erfüllen,  damit diese'Dreiheit von Vorgängen zwischen ihnen spielen kann'?_  Wir werfen einen ersten flüchtigen Blick auf die Seite des Subjekts.'Am  selbstverständlichsten ist unserer überlieferten Erkenntnistheorie wohl die  Rolle der Wahrnehmung. Das Experiment ist eine Art sinnlicher Ertahrung.  Experimentelle Erfahrung erschöpft sich aber nicht in rezeptiver Sinnlichkeit;  ia, durch die vergleichende Betrachtung des Experiments sind wir nachträg-  lich erst darauf aufmerksam geworden, wieviel Aktivität schon in der schein-  bar ,',reinen“ Wahrnehmung steckt. Es genügt auch nicht, daß zur Wahrneh-  mung nur eine der beiden_aktiven Verhaltensweisen hinzukommt: nur Den-  ken oder nur Handeln. lm ersten Fall entsteht Philosophie, im zweiten  Handwerk. Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist das Kind einer Ehezwi-  schen Philosophie und Handwerk. Galilei steht mit Recht am Anfang der  Darlegung. Kants, denn er verkörpert wohl als erster die-Einheit, die weder  Philosophie noch Handwerk mehr ist, weil sie beide enthält; jede seiner  Manipulationen ist vom Gedanken, jeder seiner Gedanken von der experi-  mentellen Prüfbarkeit geleitet.

2. Das Objekt in der Physik.  Wir wenden uns nun der Objektseite zu und beschränken. uns zunächst auf  die physikalischen Wissenschaften. Es genügt nicht, daß der Mensch wahr-  nehmen, denken und handeln kann und will. Ein Experiment kommt nur  zustande, weil und soweit die Natur ihrerseits wahrnehmbar, denkbar und  behandelbar ist. Wie weit die Natur diese Eigenschaften hat, wissen wir nicht  a priori. Die Bedingungen der Möglichkeit des Experiments, soweit sieauf  der Objektseite liegen, lehrt uns erst die experimentierende Wissenschaft  selbst kennen. Wie zu jedem einzelnen Experiment gehört zu dem Unterneh-  men der experimentellen Wissenschaft überhaupt der Mut, etwas zu unter-  nehmen, dessen Ausgang ungewiß ist. Was hat uns nun die bisherige  Entwicklung unserer Wissenschaft über diese Bedingungen ihrer eigenen  Möglichkeit gelehrt?
Wiederum, wie schon auf der Subiektseite, scheint die Wahrnehmbarkeit der  Naturerscheinungen die selbstverständlichste Voraussetzung des Experiments zu sein; wiederum führt ihre isolierte Betrachtung in die Irre. Würde  nichts wahrgenommen, so wäre zwar die experimentelle Wissenschaft nicht  möglich, würde aber alles wahrgenommen, so wäre sie nicht nötig. Das  Experiment hat den Zweck, das bisher nicht Wahrgenommene zu erforschen;  sei es, daß es einen bisher nicht wahrnehmbaren Vorgang selbst, sei es, daß  es Wirkungen einesweiterhin unwahrnehmbaren Vorgangs zur Wahrnehmung bringt. [...]
Die Brücke vom wahrnehmbaren zum nichtwahrnehmbaren Teil des Wirklichen schlägt das Denken. Es verknüpft die Wahrnehmungen durch den  Begriff zum System, plant den experimentellen -Eingriff und deutet sein  Ergebnis. Es ist der Richter, der dem Zeugen Natur die Fragen vorlegt. Der  Prozeß ist aber nur möglich, weil und soweit der Zeuge die Sprache des  Richters versteht. D. h. zwar ist, wie Kant uns lehrte, die Anwendbarkeit der  Kategorien unseres Denkens auf die Natur Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung: nur soweit das Kausalprinzip gilt, kann ich eine Erscheinung  als Wirkung einer nicht erscheinenden Ursache auffassen und so die Ursache  erschließen; nur soweit Naturgesetze gelten, gibt es Konstanz der Erscheinungen, also sinnvolle Begriffe von Dingen, also wissenschaftliche Verständigung zwischen den Menschen über die Natur. Aber wir wissen nicht a priori  und allgemein, daß die Natur sich dem Denken fügen werde. Wir versuchen  die uns jeweils plausibien oder selbstverständlichen Begriffsschemata auf  immer neue Bereiche des Wirklichen anzuwenden und erproben experimentell, wie weit wir damit kommen. Die Tatsache, daß bestimmte Gesetze  Bedingungen der Möglichkeit einer bestimmten Art der Wissenschaft sind,  zwingt die Natur nicht, diesen Gesetzen zu gehorchen; wo sie ihnen nicht  gehorcht, haben wir eben auf diese Art der Wissenschaft zu verzichten. So  wenden wir die euklidische Geometrie, das Kausalgesetz, die Substanzkate gorie erfolgreich auf unsere Meßgeräte an, aber eben mit diesen Geräten  entdecken wir Phänomene, die denselben Prinzipien nicht mehr genügen.  Daß uns bei Gegenständen von 1O~8 cm oder 108 Lichtjahren Größe dies  zustößt, sollte uns vielleicht weniger wundern, als daß wir noch immer  abstrakt mathematische, also denkbare Gesetzesschemata finden, denen  solche Gegenstände gehorchen.  Das Denken unserer Wissenschaft bewährt sich erst im Handeln, im geglückten Experiment. Experimentieren heißt Macht über die Natur ausüben. Der  Besitz der Macht ist dann der letzte Beweis der Richtigkeit des wissenschaftlichen Denkens. Die Grenzen der Anwendbarkeit gewisser Begriffe oder  Gesetze zeigen sich uns daher in der Gestalt der Undurchführbarkeit gewisser Experimente - etwa der Ermittlung einer absoluten Geschwindigkeit'  oder auch in der Gestalt der gegenseitigen Unverträglichkeit zweier Sorten  von Experimenten wie Orts- und lmpulsmessung an einem Elektron. Begriffe  wie Relativität, Komplementarität, lnvarianz gegen Transformationsgruppen tragen auch in der abstrakten Theorie diesem operativen Charakter unserer  Wissenschaft Rechnung. Vertreter eines älteren Wissenschaftsideals sind oft  erstaunt über die scheinbare Naivität, mit der wir die Nichtfeststellbarkeit  eines Sachverhalts mit seinem Nichtbestehen „venvechseln“. 'ln Wahrheit  hat unsere Wissenschaft nur ihre begriffliche Form um einen Schritt näher der  Tatsache angepaßt, die seit Galilei bestand: daß ihr letztes Wahrheitskriterium das Experiment ist. Scharf zu prüfen haben wir nur, ob ein Experiment  nur für uns wegen unzureichender technischer Mittel und Einfälle oder für  jeden denkbaren Experimentator wegen eines dem entgegenstehenden  positiven Naturgesetzes unausführbar ist.

Mögen die operativen Begriffsbildungen aber konsequent in einer experimenteilen Wissenschaft sein, so offenbaren sie doch, daß wir an einem  anderen geistigen Ort stehen als die Gründer dieser Wissenschaft. Für sie war die Natur eine vorhandene Wirklichkeit, die der Mensch nur kennenzuler nen braucht. Der Sachverhalt, den der Kantsche Richter ermitteln will, steht  vor der Ermittlung an sich fest. Das Naturgesetz gibt an, was objektiv, ohne unser Zutun, in der Natur geschieht; es ist ein Gesetz des Seienden. Für uns  ist es ein Gesetz des Möglichen. Unserer Auffassung der klassischen Physik  ist es wichtig, daß die mathematische Form ihrer Naturgesetze, die Differentialgleichung, erst eine eindeutige Lösung gibt, wenn Anfangsbedingungen  gegeben werden; daß also das Naturgesetz die Form des Konditionalsatzes  hat: „Wenn der Zustand A realisiert wird, tritt der Zustand B als seine Folge  ein.“ Und in den nicht unmittelbar wahrnehmbaren Bereichen der Natur wird das Naturgesetz mehr und mehr nur eine Angabe über die Möglichkeit und  den Ausfall von Experimenten; ein Gesetz unserer Fähigkeit, Phänomene  hervorzubringen. Auch dieses Gesetz ist objektiv, denn mit bestimmten  Mitteln lassen sich auch nur bestimmte Phänomene erzeugen. Aber was hier  objektiv geregelt ist, ist nicht mehr ein Sein, sondern ein Wechselspiel von  Handeln und Wahrnehmen. Von Objekt'en dürfen wir nur reden, sofern sie  mögliche Objekte eines Subjekts sind. Auch dieser Satz ist fast eine  Selbstverständlichkeit, denn wir definieren ja Erkenntnis als Erkenntnis eines Objekts durch ein Subjekt. Daß aber die Form unserer Sätze über Objekte  rein logisch nicht mehr zuläßt, in ihnen stilischweigend davon abzusehen,  daß sie jeweils von einem Subjekt ausgesprochen werden, das war nicht  vorauszusehen. Die metaphysische Hoffnung der klassischen Physiker,  durch ihre Wissenschaft den Halt am an sich Seienden zu gewinnen, fällt  dahin. Dieheutige Physik zwingt den Physiker zur Besinnung auf sich selbst  als Subjekt.    

3. Der geschichtliche Ort des Subjekts
Wir wenden uns zur Subjektseite zurück. [...]  Die moderne Polarität von Subjekt und Objekt tritt uns wohl zuerst klar  entgegen bei Descartes im Gegensatz von res cogitans und res extensa. Wir  erinnern uns an seinen Gedankengang. Zweifle ich an allem, so weiß ich  doch, daß ich zweifle, also daß ich denke, also auch daß ich bin. Cogito ergo  sum. So ist das Gewisseste in mir, die res cogitans, das notwendige Subjekt  jeder Erkenntnis. Den Rückweg zum Glauben an die „Außenwelt“ gewinnt  Descaıtes durch einen Gottesbeweis. Folgt das Sein Gottes aus seinem  Begriff und darf ich überzeugt sein, daß Gott mich mit den Ideen, die er in  mich gelegt hat, und den Wahrnehmungen, die er mir gewährt, nicht täuscht,  so ist die Natur wirklich. Sie wird nun von Descartes rein räumlich, als res  extensa, gedacht und der Denkweise der damals entstehenden klassischen  Mechanik unterworfen. Sie ist also in der Tat eingeführt als das dem Subjekt  erkennbare an sich seiende Objekt. Diese Konstruktion wendet janusartig ein Gesicht dem christlichen Denken  des Mittelalters und eines dem naturwissenschaftlichen Denken der Neuzeit  zu. Daß das Herz des Descartes auf der Seite der Neuzeit war, ist wohl  gewiß. ln seinem Dreieck Ich-Gott-Welt ist Gott nur der Vermittler des  Übergangs vom Ich zur Welt. Später empfand man den Gott des Descartes  wie eine zur Erleichterung der Rechnung eingeführte Hilfsgröße, die aus den  Schlußgleichungen herausfällt, und man suchte zu zeigen, daß die Rechnung  auch ohne die Hilfsgröße aufgehe. Während sich die Philosophie jahrhundertelang in der Problematik des cartesischen „Dreiecks“ bewegte, wählte die  Natunwissenschaft entschlossen das „Rechnen ohne die Hilfsgröße“ und  gründete bald ihr Selbstvertrauen auf die Erfolge dieses Weges. Die klassische Natunwissenschaft ließ außer Gott auch den subjektiven Pol, das lch,  beiseite. Indem wir heute die Zweiheit von Subjekt und Objekt wieder ernst  nehmen, nähern wir uns rückkehrend dem Ort des Descartes. - C. F. von Weizsäcker, in: Zum Weltbild der Physik, S. 169-175 -
 
      
Einsatz von Gewalt
 
Institutionalsierte Gewalt des Bestehenden und Gewalt des Widerstandes
Ich möchte [. . .] ein paar Worte über das Widerstandsrecht sagen, weil ich erstaunt bin, immer wieder zu erfahren, wie wenig eigentlich ins Bewußtsein gedrungen ist, daß die Anerkennung des Widerstandsrechts, nämlich der civil disobedience, zu den ältesten und geheiligsten Elementen der westlichen Zivilisation gehört. Die Idee, daß es ein Recht gibt, das höher ist als das positive Recht, ist so alt als die Zivilisation selbst. Hier ist der Konflikt der Rechte, vor den jede mehr als private Opposition gestellt ist; denn das Bestehende hat das legale Monopol der Gewalt und das positive Recht, ja die Pflicht, diese Gewalt zu seiner Verteidigung auszuüben. Demgegenüber steht die Anerkennung eines höheren Rechts und die Anerkennung der Pflicht des Widerstandes als Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung der Freiheit, civil disobedience als potentielle geschichtliche Gewalt. Ohne dieses Widerstandsrecht, ohne dieses Ausspielen eines höheren Rechts gegen das bestehende Recht ständen wir heute noch auf der Stufe der primitivsten Barbarei. So deckt, glaube ich, der Begriff der Gewalt zwei sehr differente Formen: Die institutionalisierte Gewalt des Bestehenden und die Gewalt des Widerstandes, die notwendig dem positiven Recht gegenüber illegal bleibt. Von einer Legalität des Widerstandes zu sprechen ist Unsinn. Kein Gesellschaftssystem, selbst das freieste nicht, kann verfassungsmäßig oder in anderer Weise eine gegen dieses System gerichtete Gewalt legalisieren. Jede dieser beiden Formen deckt entgegengesetzte Funktionen. Es gibt eine Gewalt der Befreiung und es gibt eine Gewalt der Unterdrückung. Es gibt eine Gewalt der Verteidigung des Lebens, und es gibt eine Gewalt der Aggression. Und beide Formen der Gewalt sind geschichtliche Kräfte gewesen und werden geschichtliche Kräfte bleiben. So steht die Opposition von Anfang an im Felde der Gewalt. Recht steht gegen Recht, nicht nur als abstrakte Versicherung, sondern als Aktion. Und noch einmal: das Bestehende hat das Recht, die Grenzen der Legalität zu bestimmen. Dieser Konflikt der beiden Rechte, des Widerstandsrechts und der institutionalisierten Gewalt bringt die ständige Gefahr des Zusammenstoßes mit der Gewalt mit sich, es sei denn, daß das Recht der Freiheit dem Recht der bestehenden Ordnung geopfert wird und daß, wie immer in der Geschichte, die von der Ordnung geforderten Opfer an Zahl die Opfer, die für die Befreiung fallen, weiterhin übersteigt. Das aber bedeutet, daß die Predigt der prinzipiellen Gewaltlosigkeit die bestehende institutionalisierte Gewalt reproduziert. Und diese Gewalt ist in der monopolistischen Industriegesellschaft in noch nie dagewesenem Maße in der Herrschaft konzentriert, die das Ganze der Gesellschaft durchdringt. So handelt es sich im Falle des Gewaltenkonflikts um den Zusammenstoß der allgemeinen mit der besonderen Gewalt und in diesem Zusammenstoß der allgemeinen mit der besonderen Gewalt wird die besondere Gewalt geschlagen werden, bis sie selbst eine neue Allgemeinheit der bestehenden gegenüberstellen kann. Solange die Opposition nicht die gesellschaftliche Kraft einer neuen Allgemeinheit entwickelt hat, ist das Problem der Gewalt primär ein Problem der Taktik.
Herbert Marcuse
Februar 2023

UNWORT ?
Das Verb „eskalieren“
In diesem Artikel erfahren Sie alles über das Verb eskalieren und seine verschiedenen Verwendungsweisen.
Maskenverweigerer eskalieren lautete kürzlich eine Schlagzeile in einer Tageszeitung. Der Leser stutzt, und dies mit gewisser Berechtigung. Das Verb eskalieren wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem englischen to escalate entlehnt. Es gehört zum Wort escalator („Rolltreppe“), einer Bildung aus to escalade („eine Mauer, eine Festung mit Leitern erstürmen“). Zugrunde liegt das französische escalade („Erstürmung einer Mauer, einer Festung mithilfe von Leitern“), das wiederum zu lateinisch scalae („Leiter, Treppe“) gehört.
Eskalieren kann transitiv (also mit einem Akkusativobjekt) eingesetzt werden im Sinne von „steigern, verschärfen“: Die Widerstandskämpfer eskalierten ihren Kampf bis zum Terror. Intransitiv wird das Verb verwendet als Synonym für „sich verschärfen, sich ausweiten“: Es  besteht die Gefahr, dass die Auseinandersetzungen zwischen den  Tarifpartnern eskalieren könnten. Die Demonstrationen gegen die verhängten Maßnahmen sind am Wochenende weiter eskaliert. Im intransitiven Gebrauch des Verbs funktioniert die Perfektbildung übrigens sowohl mit haben als auch mit sein, wobei die Kombination mit sein die etwas häufigere ist.
Zurück zu unserer Schlagzeile: In der Umgangs- und vor allem auch  Jugendsprache hat sich die Bedeutung des Verbs in letzter Zeit in eine  andere Richtung entwickelt, es findet Verwendung im Sinne von  „ausrasten, die Kontrolle verlieren“: Mein Vater ist voll eskaliert. Maskenverweigerer eskalieren.  - Duden Verlag -
JANUAR 2023

Immanuel Kant
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
"Berlinische Monatsschrift", November 1784, S. 385-411
 
Was man sich auch in metaphysischer Absicht für einen Begriff von der Freiheit des Willens machen mag: so sind doch die Erscheinungen desselben, die menschlichen Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt. Die Geschichte, welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen beschäftigt, so tief auch deren Ursachen verborgen sein mögen, läßt dennoch von sich hoffen: daß, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im Großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang derselben entdecken könne; und daß auf die Art, was an einzelnen Subjecten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwickelung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannnt werden können. So scheinen die Ehen, die daher kommenden Geburten und das Sterben, da der freie Wille des Menschen auf sie so großen Einfluß hat, keiner Regel unterworfen zu sein, nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen könne; und doch beweisen die jährlichen Tafeln derselben in großen Ländern, daß sie eben so wohl nach beständigen Naturgesetzen geschehen, als die so unbeständigen Witterungen, deren Eräugnis man einzeln nicht vorher bestimmen kann, die aber im Ganzen nicht ermangeln den Wachstum der Pflanzen, den Lauf der Ströme und andere Naturanstalten in einem gleichförmigen, ununterbrochenen Gange zu erhalten. Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne, und einer oft wider den anderen, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen und an derselben Beförderung arbeiten, an welcher, selbst wenn sie ihnen bekannt würde, ihnen doch wenig gelegen sein würde.
 
Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinctmäßig wie Thiere und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Thun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll. Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei. – Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden, und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie danach abzufassen. So brachte sie einen Kepler hervor,  der die eccentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf, und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte.

Erster Satz.
Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. Bei allen Thieren bestätigt dieses die äußere sowohl, als innere oder zergliedernde Beobachtung. Ein Organ, das nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung, die ihren Zweck nicht erreicht, ist ein Widerspruch in der teleologischen Naturlehre. Denn wenn wir von jenem Grundsatze abgehen, so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige, sondern eine zwecklos spielende Natur; und das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des Leitfadens der Vernunft.

Zweiter Satz.
 Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln. Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe. Sie wirkt aber selbst nicht instinctmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählig fortzuschreiten. Daher würde ein jeder Mensch unmäßig lange leben müssen, um zu lernen, wie er von allen seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle; oder wenn die Natur seine Lebensfrist nur kurz angesetzt hat (wie es wirklich geschehen ist), so bedarf sie einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist. Und dieser Zeitpunkt muß wenigstens in der Idee des Menschen das Ziel seiner Bestrebungen sein, weil sonst die Naturanlagen größtentheils als vergeblich und zwecklos angesehen werden müßten; welches alle praktischen Prinzipien aufheben und dadurch die Natur, deren Weisheit in Beurteilung aller übrigen Anstalten sonst zum Grundsatze dienen muß, am Menschen allein eines kindischen Spiels verdächtig machen würde.

Dritter Satz.
 Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, verschafft hat. Die Natur thut nämlich nichts überflüssig und ist im Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht verschwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab, so war das schon eine klare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung. Er sollte nämlich nun nicht durch Instinct geleitet, oder durch anerschaffene Kenntniß versorgt und unterrichtet sein; er sollte vielmehr alles aus sich selbst herausbringen. Die Erfindung seiner Nahrungsmittel, seiner Bedeckung, seiner äußeren Sicherheit und Verteidigung (wozu sie ihm weder die Hörner des Stiers, noch die Klauen des Löwen, noch das Gebiß des Hundes, sondern bloß Hände gab), alle Ergötzlichkeit, die das Leben angenehm machen kann, selbst seine Einsicht und Klugheit und sogar die Gutartigkeit seines Willens sollten gänzlich sein eigen Werk sein. Sie scheint sich hier in ihrer größten Sparsamkeit selbst gefallen zu haben und ihre thierische Ausstattung so knapp, so genau auf das höchste Bedürfniß einer anfänglichen Existenz abgemessen zu haben, als wollte sie: der Mensch sollte, wenn er sich aus der größten Rohigkeit dereinst zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart und (so viel auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit empor gearbeitet haben würde, hievon das Verdienst ganz allein haben und es sich selbst nur verdanken dürfen; gleich als habe sie es mehr auf seine vernünftige Selbstschätzung, als auf ein Wohlbefinden angelegt. Denn in diesem Gange der menschlichen Angelegenheit ist ein ganzes Heer von Mühseligkeiten, die den Menschen erwarten. Es scheint aber der Natur darum gar nicht zu thun gewesen zu sein, daß er wohl lebe; sondern daß er sich so weit hervorarbeite, um sich durch sein Verhalten des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen. Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können. Allein so räthselhaft dieses auch ist, so nothwendig ist es doch zugleich, wenn man einmal annimmt: eine Thiergattung soll Vernunft haben und als Klasse vernünftiger Wesen, die insgesamt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist, dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwickelung ihrer Anlagen gelangen.

Vierter Satz.
 Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit des Menschen, d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Werth des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Principien und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann. Ohne jene an sich zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den letztern heraus zu ziehen. Die natürlichen Triebfedern dazu, die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entsprangen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwickelung der Naturanlagen antreiben, verrathen also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe.


Fünfter Satz.
 Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Da nur in der Gesellschaft und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung sich selbst verschaffen solle: so muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d.i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein, weil die Natur nur vermittelst der Auflösung und Vollziehung derselben ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann. In diesen Zustand des Zwanges zu treten, zwingt den sonst für ungebundene Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Not; und zwar die größte unter allen, nämlich die, welche sich  Menschen unter einander selbst zufügen, deren Neigungen es machen, daß sie in wilder Freiheit nicht lange neben einander bestehen können. Allein in einem solchen Gehege, als bürgerliche Vereinigung ist, thun eben dieselben Neigungen hernach die beste Wirkung: so wie Bäume in einem Walde eben dadurch, daß ein jeder dem andern Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nöthigen beides über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit und von einander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen. Alle Cultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird sich zu disciplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln.

Sechster Satz.
 Dieses Problem ist zugleich das schwerste und das, welches von der Menschengattung am spätesten aufgelöset wird. Die Schwierigkeit, welche auch die bloße Idee dieser Aufgabe schon vor Augen legt, ist diese: der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer Seinesgleichen; und ob er gleich als vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit Aller Schranken setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige thierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen. Wo nimmt er aber diesen Herrn her? Nirgend anders als aus der Menschengattung. Aber dieser ist eben so wohl ein Thier, das einen Herrn nöthig hat. Er mag es also anfangen, wie er will; so ist nicht abzusehen, wie er sich ein Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit verschaffen könne, das selbst gerecht sei; er mag dieses nun in einer einzelnen Person, oder in einer Gesellschaft vieler dazu auserlesener Personen suchen. Denn jeder derselben wird immer seine Freiheit mißbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn Gewalt ausübt. Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich; aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt [Fußnote]. Daß sie auch diejenige sei, welche am spätesten ins Werk gerichtet wird, folgt überdem auch daraus: daß hiezu richtige Begriffe von der Natur einer möglichen Verfassung, große durch viel Weltläufe geübte Erfahrenheit und über alles ein zur Annehmung derselben vorbereiteter guter Wille erfordert wird; drei solche Stücke aber sich sehr schwer und, wenn es geschieht, nur sehr spät, nach viel vergeblichen Versuchen, einmal zusammen finden können.
 
Siebenter Satz.

 Das Problem der Errichtung einer vollkommnen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatsverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöst werden. Was hilfts, an einer gesetzmäßigen bürgerlichen Verfassung unter einzelnen Menschen, d.i. an der Anordnung eines gemeinen Wesens, zu arbeiten? Dieselbe Ungeselligkeit, welche die Menschen hiezu nöthigte, ist wieder die Ursache, daß ein jedes gemeine Wesen in äußerem Verhältnisse, d.i. als ein Staat in Beziehung auf Staaten, in ungebundener Freiheit steht, und folglich einer von dem andern eben die Übel erwarten muß, die die einzelnen Menschen drückten und sie zwangen in einen gesetzmäßigen bürgerlichen Zustand zu treten. Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen Antagonism derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d.i. sie treibt durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Noth, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muß, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte. So schwärmerisch diese Idee auch zu sein scheint und als eine solche an einem Abbé von St. Pierre oder Rousseau verlacht worden (vielleicht, weil sie solche in der Ausführung zu nahe glaubten): so ist es doch der unvermeidliche Ausgang der Noth, worein sich Menschen einander versetzen, die die Staaten zu eben der Entschließung (so schwer es ihnen auch eingeht) zwingen muß, wozu der wilde Mensch eben so ungern gezwungen ward, nämlich: seine brutale Freiheit aufzugeben und in einer gesetzmäßigen Verfassung Ruhe und Sicherheit zu suchen. – Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen und durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung aller neue Körper zu bilden, die sich aber wieder entweder in sich selbst oder neben einander nicht erhalten können und daher neue, ähnliche Revolutionen erleiden müssen; bis endlich einmal theils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, theils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich ein Zustand errichtet wird, der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann.
 Ob man es nun von einem epikurischen Zusammenlauf wirkender Ursachen erwarten solle, daß die Staaten, so wie die kleinen Stäubchen der Materie durch ihren ungefähren Zusammenstoß allerlei Bildungen versuchen, die durch neuen Anstoß wieder zerstört werden, bis endlich einmal von ungefähr eine solche Bildung gelingt, die sich in ihrer Form erhalten kann (ein Glückszufall,  der sich wohl schwerlich jemals zutragen wird!); oder ob man vielmehr annehmen solle, die Natur verfolge hier einen regelmäßigen Gang, unsere Gattung von der unteren Stufe der Thierheit an allmählig bis zur höchsten Stufe der Menschheit und zwar durch eigene, obzwar dem Menschen abgedrungene Kunst zu führen, und entwickele in dieser scheinbarlich wilden Anordnung ganz regelmäßig jene ursprünglichen Anlagen; oder ob man lieber will, daß aus allen diesen Wirkungen und Gegenwirkungen der Menschen im Großen überall nichts, wenigstens nichts Kluges herauskomme, daß es bleiben werde, wie es von jeher gewesen ist, und man daher nicht voraus sagen könne, ob nicht die Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist, am Ende für uns eine Hölle von Übeln in einem noch so gesitteten Zustande vorbereitete, indem sie vielleicht diesen Zustand selbst und alle bisherigen Fortschritte in der Cultur durch barbarische Verwüstung wieder vernichten werde (ein Schicksal, wofür man unter der Regierung der blinden Ungefährs nicht stehen kann, mit welcher gesetzlose Freiheit in der That einerlei ist, wenn man ihr nicht einen insgeheim an Weisheit geknüpften Leitfaden der Natur unterlegt!), das läuft ungefähr auf die Frage hinaus: ob es wohl vernünftig sei, Zweckmäßigkeit der Naturanstalt in Teilen und doch Zwecklosigkeit im Ganzen anzunehmen. Was also der zwecklose Zustand der Wilden that, daß er nämlich alle Naturanlagen in unserer Gattung zurück hielt, aber endlich durch die Übel, worin er diese versetzte, sie nöthigte, aus diesen Zustande hinaus und in eine bürgerliche Verfassung zu treten, in welcher alle jene Keime entwickelt werden können, das thut auch die barbarische Freiheit der schon gestifteten Staaten, nämlich: daß durch die Verwendung aller Kräfte der gemeinen Wesen auf Rüstungen gegen einander, durch die Verwüstungen, die der Krieg anrichtet, noch mehr aber durch die Notwendigkeit sich beständig in Bereitschaft dazu zu erhalten zwar die völlige Entwicklung der Naturanlagen in ihrem Fortgange gehemmt wird, dagegen aber auch die Übel, die daraus entspringen, unsere Gattung nöthigen, zu dem an sich heilsamen Widerstande vieler Staaten neben einander, der aus ihrer Freiheit entspringt, ein Gesetz des Gleichgewichts auszufinden und eine vereinigte Gewalt, die demselben Nachdruck gibt, mithin einen weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit einzuführen, der nicht ohne alle Gefahr sei, damit die Kräfte der Menschheit nicht einschlafen, aber doch auch nicht ohne ein Prinzip der Gleichheit ihrer wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung, damit sie einander nicht zerstören. Ehe dieser letzte Schritt (nämlich die Staatenverbindung) geschehen, also fast nur auf der Hälfte ihrer Ausbildung, erduldet die menschliche Natur die härtesten Übel unter dem betrüglichen Anschein äußerer Wohlfahrt; und Rousseau hatte so Unrecht nicht, wenn er den Zustand der Wilden vorzog, so bald man nämlich diese letzte Stufe, die unsere Gattung noch zu ersteigen hat, wegläßt. Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung aus. So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden und so die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten: weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird. Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend. In diesem Zustande wird wohl das menschliche Geschlecht verbleiben, bis es sich auf die Art, wie ich gesagt habe, aus dem chaotischen Zustande seiner Staatsverhältnisse herausgearbeitet haben wird.

Achter Satz.

Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann. Der Satz ist eine Folgerung aus dem vorigen. Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist. Es kommt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke. Ich sage: etwas Weniges; denn dieser Kreislauf scheint so lange Zeit zu erfordern, bis er sich schließt, daß man aus dem kleinen Theil, den die Menschheit in dieser Absicht zurückgelegt hat, nur eben so unsicher die Gestalt ihrer Bahn und das Verhältniß der Theile zum Ganzen bestimmen kann, als aus allen bisherigen Himmelsbeobachtungen den Lauf, den unsere Sonne samt dem ganzen Heere ihrer Trabanten im großen Fixsternsystem nimmt; obgleich doch aus dem allgemeinen Grunde der systematischen Verfassung des Weltbaues und aus dem Wenigen, was man beobachtet hat, zuverlässig genug, um auf die Wirklichkeit eines solchen Kreislaufs zu schließen. Indessen bringt es die menschliche Natur so mit sich: selbst in Ansehung der allerentferntesten Epoche, die unsere Gattung treffen soll, nicht gleichgültig zu sein, wenn sie nur mit Sicherheit erwartet werden kann. Vornehmlich kann es in unserem Falle um desto weniger geschehen, da es scheint, wir könnten durch unsere eigene vernünftige Veranstaltung diesen für unsere Nachkommen so erfreulichen Zeitpunkt schneller herbeiführen. Um deswillen werden uns selbst die schwachen Spuren der Annäherung desselben sehr wichtig. Jetzt sind die Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnisse gegen einander, daß keiner in der inneren Cultur nachlassen kann, ohne gegen die andern an Macht und Einfluß zu verlieren; also ist, wo nicht der Fortschritt, dennoch die Erhaltung dieses Zwecks der Natur selbst durch die ehrsüchtigen Absichten derselben ziemlich gesichert. Ferner: bürgerliche Freiheit kann jetzt auch nicht sehr wohl angetastet werden, ohne den Nachtheil davon in allen Gewerben, vornehmlich dem Handel, dadurch aber auch die Abnahme der Kräfte des Staats im äußeren Verhältnisse zu fühlen. Diese Freiheit geht aber allmählig weiter. Wenn man den Bürger hindert, seine Wohlfahrt auf alle ihm selbst belibiege Art, die nur mit der Freiheit anderer zusammen bestehen kann, zu suchen: so hemmt man die Lebhaftigkeit des durchgängigen Betriebs und hiemit wiederum die Kräfte des Ganzen. Daher wird die persönliche Einschränkung in seinem Thun und Lassen immer mehr aufgehoben, die allgemeine Freiheit der Religion nachgegeben; und so entspringt allmählich mit unterlaufendem Wahne und Grillen Aufklärung, als ein großes Gut, welches das menschliche Geschlecht sogar von der selbstsüchtigen Vergrößerungsabsicht seiner Beherrscher ziehen muß, wenn sie nur ihren eigenen Vortheil verstehen. Diese Aufklärung aber und mit ihr auch ein gewisser Herzensantheil, den der aufgeklärte Mensch am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht vermeiden kann, muß nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einfluß haben. Obgleich z.B. unsere Weltregierer zu öffentlichen Erziehungsanstalten und überhaupt zu allem, was das Weltbeste betrifft, für jetzt kein Geld übrig haben, weil alles auf den künftigen Krieg schon zum Voraus verrechnet ist: so werden sie doch ihren eigenen Vortheil darin finden,  die obzwar schwachen
und langsamen eigenen Bemühungen ihres Volkes in diesem Stücke wenigstens nicht zu hindern. Endlich wird selbst der Krieg allmählig nicht allein ein so künstliches,  im Ausgange von beiden Seiten so unsicheres, sondern auch durch die Nachwehen, die der Staat in einer immer anwachsenden Schuldenlast (einer neuen Erfindung) fühlt, deren Tilgung unabsehlich wird, ein so bedenkliches Unternehmen, dabei der Einfluß, den jede Staatserschütterung in unserem durch seine Gewerbe so sehr verketteten Welttheil auf alle anderen Staaten thut, so merklich: daß sich diese, durch ihre eigene Gefahr gedrungen, obgleich ohne gesetzliches Ansehen, zu Schiedsrichtern anbieten und so alles von weitem zu einem künftigen großen Staatskörper anschicken, wovon die Vorwelt kein Beispiel aufzuzeigen hat. Obgleich dieser Staatskörper für jetzt nur noch sehr im rohen Entwurfe dasteht, so fängt sich dennoch gleichsam schon ein Gefühl in allen Gliedern, deren jedem an der Erhaltung des Ganzen gelegen ist, an zu regen; und dieses giebt Hoffnung, daß nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schooß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde.

Neunter Satz.
 
Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einen Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden. Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könnte nur ein Roman zu Stande kommen. Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden; und ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung zu durchschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen. Denn wenn man von der griechischen Geschichte – als derjenigen, wodurch uns jede andere ältere oder gleichzeitige aufbehalten worden, wenigstens beglaubigt werden muß [Fußnote] – anhebt; wenn man derselben Einfluß auf die Bildung und Mißbildung des Staatskörpers des römischen Volks, das den griechischen Staat verschlang, und des letzteren Einfluß auf die Barbaren, die jenen wiederum zerstörten, bis auf unsere Zeit verfolgt; dabei aber die Staatengeschichte anderer Völker, so wie deren Kenntniß durch eben diese aufgeklärten Nationen allmählig zu uns gelangt ist, episodisch hinzuthut: so wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Welttheile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird) entdecken. Indem man ferner allenthalben nur auf die bürgerliche Verfassung und deren Gesetze und auf das Staatsverhältnis Acht hat, in so fern beide durch das Gute, welches sie enthielten, eine Zeitlang dazu dienten, Völker (mit ihnen auch Künste und Wissenschaften) empor zu heben und zu verherrlichen, durch das Fehlerhafte aber, das ihnen anhing, sie wiederum zu stürzen, so doch, daß immer ein Keim der Aufklärung übrig blieb, der, durch jede Revolution mehr entwickelt, eine folgende noch höhere Stufe der Verbesserung vorbereitete: so wird sich, wie ich glaube, ein Leitfaden entdecken, der nicht bloß zur Erklärung des so verworrenen Spiels menschlicher Dinge, oder zur politischen Wahrsagerkunst künftiger Staatsveränderungen dienen kann (ein Nutzen, den man schon sonst aus der Geschichte der Menschen, wenn man sie gleich als unzusammenhängende Wirkung einer regellosen Freiheit ansah, gezogen hat!); sondern es wird (was man, ohne einen Naturplan vorauszusetzen, nicht mit Grunde hoffen kann) eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet werden, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden. Eine solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen?
 
Daß ich mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie verdrängen wollte: wäre Mißdeutung meiner Absicht; es ist nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte. Überdem muß die sonst rühmliche Umständlichkeit, mit der man jetzt die Geschichte seiner Zeit abfaßt, doch einen jeden natürlicher Weise auf die Bedenklichkeit bringen: wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen. Ohne Zweifel werden sie die der ältesten Zeit, von der ihnen die Urkunden längst erloschen sein dürften, nur aus dem Gesichtspunkte dessen, was sie interessiert, nämlich desjenigen, was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben, schätzen. Hierauf aber Rücksicht zu nehmen, imgleichen auf die Ehrbegierde der Staatsoberhäupter sowohl als ihrer Diener, um sie auf das einzige Mittel zu richten, das ihr rühmliches Andenken auf die späteste Zeit bringen kann: das kann noch überdem einen kleinen Bewegungsgrund zum Versuche einer solchen philosophischen Geschichte abgeben.
 






 

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SEPTEMBER 22

Wir wollen nun einige Beispiele metaphysischer Scheinsätze aufzeigen, an denen sich  besonders deutlich erkennen lässt, dass die logische Syntax verletzt ist, obwohl die historisch-grammatische Syntax erfüllt ist. Wir wählen einige Sätze aus derjenigen metaphysischen Lehre, die gegenwärtig in Deutschland den stärksten Einfluss ausübt.  »Erforscht werden so!! das Seiende nur und sonst - ' nichts; das Seiende allein und weiter - nichts; das Seiende einzig und darüber hinaus - nichts. Wie steht es um dieses  Nichts? - - Gibt es das Nichts nur, weil es das Nicht, d. h. die Verneinung gibt? Oder liegt es  umgekehrt? Gibt es die Verneinung und das Nicht nur, weil' es das Nichts gibt? - - Wir  behaupten: Das Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung. - - Wo suchen  wir das Nichts? Wie finden wir das Nichts? - - Wir kennen das Nichts. - - Die Angst offenbart das Nichts. - ~ Wovor und warum wir uns ängsteten, war ›eigentlich< - nichts. in der  Tat: das Nichts selbst - als solches - war da, - - Wie steht es um das Nichts? - _- Das  Nichts selbst nichtet.«
Um zu zeigen, dass die Möglichkeit der Bildung von Scheinsätzen auf einem logischen  Mangel der Sprache beruht, stellen wir das unten stehende Schema auf. Die Sätze unter l  sind sowohl grammatisch wie logisch einwandfrei, also sinnvoll. Die Sätze unter ll (mit Ausnahme von B 3) stehen grammatisch in vollkommener Analogie zu denen unter 1. Die Satzform Il A (als Frage und Antwort) entspricht zwar nicht den Forderungen, die an eine logisch  korrekte Sprache zu stellen sind. Sie ist  aber trotzdem sinnvoll, da sie sich in korrekte Sprache übersetzen lässt; das zeigt der Satz lll A, der denselben Sinn wie ll A hat. Die Unzweckmäßigkeit der Satzform ll A zeigt sich dann darin, dass wir von ihr aus durch grammatisch  einwandfreie Operationen zu den sinnlosen Satzformen ll B gelangen können, die dem obigen Zitat entnommen sind. Diese Formen lassen sich in der korrekten Sprache der Kolonne  lll überhaupt nicht bilden. Trotzdem wird ihre Sinnlosigkeit nicht auf den ersten Blick  bemerkt, da man sich leicht durch die Analogie zu den sinnvollen Sätzen l B täuschen lässt.  Der hier festgestellte Fehler unserer Sprache liegt also darin, dass sie, im Gegensatz zu  einer logisch korrekten Sprache, grammatische Formgleichheit zwischen sinnvollen und  sinnlosen Wortreihen zulässt. Jedem Wortsatz ist eine entsprechende Formel in Schreibweise der Logistik  beigefügt; diese Formeln lassen die unzweckmäßige Analogie E zwischen l A und ll A und die darauf beruhende Entstehung der sinnlosen Bildungen ll B
besonders deutlich erkennen.Schreibweise der Logistik4 beigefügt; diese Formeln lassen die unzweckmäßige Analogie E
zwischen l A und ll A und die darauf beruhende Entstehung der sinnlosen Bildungen ll B
besonders deutlich erkennen.
   
Juli 22

Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden  und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch. Nicht aber ist darum die  Einheit zu verleugnen, welche die diskontinuierlichen, chaotisch zersplitterten Momente und Phasen der Geschichte zusammenschweißt, die von  Naturbeherrschung, fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und  schließlich die über inwendige Natur. Keine Universalgeschichte führt vom  Wilden zur Humanität, sehr - wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. Sie endet in der totalen Drohung der organisierten Menschheit gegen die organisierten Menschen, im Inbegriff von Diskontinuität.
 
Hegel wird dadurch  zum Entsetzen verifiziert und auf den Kopf gestellt. Verklärte jener die  Totalität geschichtlichen Leidens zur Positivität des sich realisierenden Absoluten, so wäre das Eine und Ganze, das bis heute, mit Atempausen, sich  fortwälzt, teleologisch das absolute Leiden. [...] Die Gesellschaft erhält sich nicht trotz ihres Antagonismus am Leben sondern durch ihn; Profitinteresse,  und damit das Klassenverhältnis sind objektiv der Motor des Produktionsvorgangs, an dem das Leben aller hängt und dessen Primat seinen Fluchtpunkt  hat im Tod aller. Das impliziert auch das Versöhnende am Unversöhnlichen;  weil es allein den Menschen zu leben erlaubt, wäre ohne es nicht einmal die  Möglichkeit veränderten Lebens. Was geschichtlich jene Möglichkeit schuf,  kann sie ebensowohl zerstören. Zu definieren wäre der Weltgeist, würdiger  Gegenstand von Definition, als permanente Katastrophe.
 
...]  Nicht müßig sind Spekulationen, ob der Antagonismus im Ursprung menschlicher Gesellschaft, ein Stück prolongierter Naturgeschichte, als Prinzip homo homini lupus (der Mensch dem Menschen ein Wolf) ererbt oder erst thesei geworden sei; und ob er, wäre er schon  entsprungen, aus den Notwendigkeiten des Überlebens der Gattung folgte  und nicht gleichsam kontingent, aus archaischen Willkürakten von Machter-  greifung. Damit freilich fiele die Konstruktion des Weltgeistes auseinander.  Das geschichtliche Allgemeine, die Logik der Dinge, die in der Notwendigkeit  der Gesamttendenz sich zusammenballt, gründete in Zufällígem, ihr Äußerlichem; sie hätte nicht zu sein brauchen.
- Th. W. Adorno, Negative Dialektik, 312f -         
Diese Form der Philosophie, die im Wesentlichen aus heißer  Luft besteht, kursierte erstmals Ende der 1960er Jahre. Damals  verkündete der Harvard-Professor Timothy Leary, man könne  auch durch das Verspeisen psychedelisch wirkender Pilze zur  Erleuchtung kommen. Die später New Age genannte Strömung verbindet traditionelle ostasiatische Weisheitslehren mit mittelalterlichen esoterischen Praktiken wie Astrologie und Tarot und  der Mystik der Kabbala. Sprüche wie »Ich bin eins mit meiner  Dualität« oder »Seit ich Vertrauen in die Gerichtsbarkeit gewonnen habe, muss ich keine Waffe mehr tragen« bilden ebenfalls einen wesentlichen Teil der New-Age-Philosophie.Das erinnert uns an die ältere Dame, die Anfang des 19. Jahrhunderts nach einem Vortrag des englischen Dichters Samuel Taylor Coleridge zu diesem gesagt haben soll: »Mister Coleridge, jetzt akzeptiere ich das Universum.« Coleridge schaute sie über seine  Brille hinweg an und sagte: ››In der Tat, Madam, das sollten sie auch!«  Zum Glück haben wir Humoristen, die Licht ins Dunkel des  New-Age-Denkens bringen. Wie viele« New-Age-Adepten sind nötig um eine Glühbirne auszutauschen?  Keiner, denn sie bilden sofort eine Selbsthilfegruppe mit dem Namen; »Mit der Dunkelheit leben«.
-Text aus: Cathcart, Klein: Platon und Schnabeltier -


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